Debattenbeitrag: Was ist nur los mit unserer Welt?Miteinander im Gespräch

23. Februar 2024

Wie in der Gesellschaft gibt es unter den NGG-Mitgliedern viele Diskussionen. Statt übereinander zu reden wollen wir miteinander ins Gespräch kommen. Wofür wollen wir streiten und uns gemeinsam stark machen?

Jürgen Kissmann, NGG-Mitglied und Betriebsrat bei Grabower Süßwaren, Arnstadt (Thüringen) hat zum Jahresbeginn aufgeschrieben, was ihn bewegt. Ein Aufschlag zur Debatte. 


Was ist nur los mit unserer Welt?

Momentan beschäftigen uns alle ganz viele globale und regionale Themen im neuen Jahr 2024. Vieles scheint aus dem Ruder zu laufen.

Ein ganz persönlicher Eindruck zu einem spannenden und herausfordernden neuen Jahr.  

Erst am vergangenen Wochenende sind Hunderttausende in Deutschland auf die Straße gegangen, um gegen den drohenden Faschismus und der fremdenfeindlichen Politik durch die AFD zu protestieren. Auch in vielen Städten in Thüringen hat eine große Anzahl Menschen friedlich demonstriert. Friedliche Auseinandersetzungen von unterschiedlichen Meinungen bei Demonstrationen und Gegendemonstrationen sind ein hohes errungenes Gut in unserem demokratischen Land.

Viele Ältere von uns sind dafür ebenfalls friedlich vor 35 Jahren auf die Straßen gegangen.    

Woher kommt der Hass, die Ausgrenzung Andersdenkender, die „soziale Kälte“, die sich bei uns immer weiter ausbreitet? Für viele gibt es nur noch „Schwarz oder Weiß“ – wer nicht so denkt und handelt wie ich, der bekommt es zu spüren. Eine nie so krass dagewesene egoistische „Ellenbogen- und Rechthabergesellschaft“, wie ich sie gerade erlebe, macht mir Angst. Unsere Demokratie, unser Wohlstand, unsere soziale Zukunft und damit verbunden unsere Lebensqualität für uns selbst, für unsere Kinder und Enkel steht auf dem Spiel.

Manchmal werde ich an ein Sprichwort erinnert: „Wenn es dem Esel zu gut geht,  geht er aufs Eis“.

Sind wir gerade dabei unsere demokratischen Grundwerte zu verspielen, durch Ignoranz, Intoleranz, Gewaltbereitschaft, Radikalität, Rassismus, Gleichgültigkeit und rechtes Gedankengut? 

Wie reden wir miteinander und übereinander?

Liebevoll, wertschätzend und direkt, oder informieren und diffamieren wir uns gegenseitig nur noch über private Klatsch- und Tratsch-Kanäle der Social-Media-Industrie? Denn da ist man anonymer und kann sich im Wettbewerb um die hetzerischsten Sprüche des Tages über den Anderen mal so richtig auslassen.

Sicher: unsere Arbeits- und Lebenswelt war im Sozialismus ungerecht, ist es im Kapitalismus auch in anderer Form, und wird auch in Zukunft ungerecht sein. Wo Menschen sich mit unterschiedlichen Ansichten und Prägungen in einem System begegnen, wird es nicht immer nur ganz friedlich zugehen.  Aber die große Frage bleibt bei aller Ungerechtigkeit: Wie wollen wir miteinander zukünftig umgehen?  Viele glauben, dass die Meinungsfreiheit für sie grenzenlos ist, dass sie „ihre Meinung“ „ihre- (Glaubens-) Gesinnung“, wenn nötig, auch mit dem „Faustrecht“ oder mit Waffengewalt durchsetzen dürfen.

„Aber die große Frage bleibt bei aller Ungerechtigkeit: Wie wollen wir miteinander zukünftig umgehen?“

Das staatliche, der Allgemeinheit dienende, Gewaltmonopol wird ignoriert, es wird immer aggressiver gehetzt, beschimpft und beleidigt. Wo nur die selbstbezogene Aktion als orientierend gilt, wird die gesellschaftliche Interaktion zu einem destruktiven Selbstdurchsetzungskampf.

Sie greifen dann an, was sie im Entferntesten an die staatliche demokratische Autorität erinnert: Sachbearbeiter*innen der Arbeitsämter und Jobcenter, Politessen vom Ordnungsamt, Zugbegleiter*innen, Straßenbahn- und Busfahrer*innen, Polizist*innen, die ihren normalen Job machen. Sogar Ärzte*innen, Sanitäter*innen und Feuerwehrleute im Rettungseinsatz und bevorzugt auch Kommunalbedienstete, ehrenamtliche und hauptamtliche Bürgermeister*innen und andere Mandatsträger*innen bekommen den persönlichen Hass zu spüren. Tag für Tag werden laut BKA irgendwo in unserer Republik mehr als 3 Stadt- oder Gemeindeoberhäupter angegriffen, weil sie von politisch- motivierten Straftäter*innen für alles verantwortlich gemacht werden, was diese für Politik halten. Und sie sind auch – weil sie vor Ort ungeschützt sind – am leichtesten „greifbar“ für die aggressiven Wutbürger. Die Dunkelziffer von Übergriffen dürfte noch weit höher liegen.

Ja, auch die große Rot-Gelb-Grüne Ampel- Politik versagt in vielen Bereichen:

-> Waren die getroffenen Corona- Schutzmaßnahmen in der Vergangenheit wirklich in der Schärfe notwendig und zielführend? Was wird mit den zum Großteil berechtigten Bauernprotesten? Wie teuer darf das Essen in den Schulen und Kitas noch werden? Wann ist die Inflationsrate wieder auf einem normalen Niveau? Können sich alle Bürger bezahlbare und qualitativ gute Lebensmittel auch leisten, oder nimmt die Zahl der „Tafelempfänger“ weiter zu? Wie hoch steigen die Energiepreise noch in 2024? Wie viel finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine ist wirklich notwendig?

Es gibt auch weiterhin die Kürzung des Rentenniveaus, die Verteuerung des Wohnraums (Mietpreisbremse?). Nicht alle Branchen und Mitarbeiter*innen haben eine Inflationsausgleichsprämie bekommen, die Staatsverschuldung in Rekordhöhe ist eine schwere Hypothek für die nächsten Generationen! Das Niedriglohnniveau gibt’s immer noch in einigen Branchen, das erhöhte Bürgergeld ist eine gewisse Bremse für diejenigen, die im Niedriglohnsektor weiterhin beschäftigt sind, -> der Mensch geht oft nicht vor Marge!         

Warum müssen Krankenhäuser Gewinne machen? Das Zwei-Klassen- Gesundheitssystem mit den vielen privaten und staatlichen Gesundheitskassen. Die fehlenden Fachkräftegewinnungsoffensiven. Der Marktmacht und den grenzenlosen Renditezielen der Industrie und Konzerne wird politisch zu wenig entgegengesetzt. Strafbehörden und die Justiz verfolgen zu langsam kriminelle in- und ausländische Bürger. Mangelnde Konsequenzen bei der Umsetzung der Klimaziele, die wir regional und global sehr deutlich verfehlen. Ein rascherer Umbau der Wirtschaft für mehr Nachhaltigkeit, bessere soziale Standards und Ökologie gehen nur schleppend voran. Die internen und globalen Umweltverschmutzungen nehmen immer drastischere Ausmaße an, keine Verbesserung der Wertschöpfungsketten für die Bauern und Kleinunternehmer und Handwerker. Eine zu hohe Steuerlast für die „kleinen Leute“. Eine fehlende Begrenzung und Lenkung der globalen Flüchtlingsströme! Wie lange sollen die „Vermögenden“ in unserem Land weiter Milliarden Euros anhäufen dürfen, weil es an einer „Reichensteuer“ und einer grundlegenden Reform der Erbschaftssteuer fehlt. Denn damit könnte das bestehende soziale Gefälle, die Ungleichheit zwischen den Vermögenden und den finanziell-hilfsbedürftigsten Menschen in Deutschland deutlich minimiert werden.

Das „Posten-Geschachere“ bei den Parteien, die Manager, die trotz Unfähigkeit legal, illegal, scheißegal ungestraft Milliarde um Milliarde als Schadensersatz- und Strafzahlungen in den Sand setzen dürfen, Geld das von den abhängig beschäftigten AN hart erarbeitet wurde, abgehalfterte Politiker*innen die auf hoch dotierten Posten in der Wirtschaft ihre „mageren Altersbezüge“ aufbessern, Fußballspieler und andere Sportfunktionäre machen aus der „schönsten Nebensache der Welt“ ein Milliardengeschäft durch den Einstieg eines neuen Großinvestors usw.

Man könnte diese Liste noch beliebig lang fortsetzen.

Eine nicht zu unterschätzende Spaltung unserer Gesellschaft in eine Minderheit massiv Privilegierter und eine größer werdende Mehrheit massiv Benachteiligter, das macht u.a. die „soziale Kälte“ in unserm Lande aus, und ist eine der Ursachen einer gefährlichen Entwicklung unseres Gemeinwesens. Es gibt fast keinen „gesunden Mittelstand“ mehr.

Politisch profitieren davon bisher in erster Linie einige Gruppierungen, die sich selber zur „Alternativen für Deutschland“ erhoben haben, wie die z.B. die AFD und die Querdenker. Eine rechtsnationale diktatorische Entwicklung hat Deutschland vor knapp 100 Jahren schon einmal nicht gutgetan. Aktuelle Enthüllungen zeigen auf, welches rassistische Menschenbild Teile der AfD vertreten. Aus diesem Grunde ist es für jeden Bürger wichtig zu wissen, bei wem marschiere ich mit auf den Demos! Welchem möglichen „Rattenfänger“ laufe ich da hinterher? Bei welcher hoffentlich demokratischen Partei mache ich in 2024 meine Kreuzchen?

Es reicht, nicht immer nur auf die rechtsradikale Bedrohung hinzuweisen, wir müssen uns als demokratische Bürger in der Öffentlichkeit zeigen.

Demokratie ist kein Selbstläufer, Demokratie muss aktiv gelebt werden, will den Dialog von unterschiedlichen Meinungen, auch von Andersdenkenden und deren kritischen Äußerungen. Jeder, der sich dabei auf dem Grundgesetzlichen Boden bewegt, ist dabei herzlich eingeladen, unser Land zukünftig zu einem besseren, offeneren und bunteren zu machen. Solange aber rechtsorientierte Gruppen, Parteien und Querdenker nicht vom Nutzen der Demokratie überzeugt sind, sondern sie ihren Anhängern erzählen, dass es ihnen/uns kulturell und materiell schlecht geht, oder bald schlechter gehen wird, weil ...,

dann ist das der Boden für Aus- und Abgrenzung, -> für einfache Antworten auf komplexe politische- Fragen und Strategien, die von so manchem einfach ungeprüft nachgeplappert werden. Ausgrenzung, nur Schwarz-Weiß-Denken bringt uns da nicht weiter. Dem den Boden zu entziehen, gelingt uns nur, wenn sich alle demokratischen Kräfte auf gelebte Werte wie Demut, Selbstlosigkeit, Empathie, Nächstenliebe, Dialogbereitschaft und Wertschätzung besinnen, und damit einen guten Wandel in unserer Gesellschaft einleiten, - weg vom Neoliberalismus, übersteigertem Konkurrenzdenken, der Ausgrenzung von Andersdenkenden, den überzogenen Gewinnerwartungen und einer Marktradikalität, die keinem wirklich gut tut, hin zu einem lebenswerten Sozialstaat, in dem alle demokratischen Kräfte, Verbände, Organisationen und Denker eine bleibende Heimat haben und sich entwickeln können.                

Demokratie muss immer wieder neu aktiv gelebt werden.

Demokratie lebt vom Mitmachen und Gestalten, lebt vom Verantwortung übernehmen, für sich selbst und für andere.

Nur so kann die aktuell nicht nur von mir empfundene „soziale Kälte“ sich nicht dauerhaft zu einer neuen „Eiszeit“ bei uns in Deutschland im Jahr 2024 ausbreiten. Jeder von uns in Arnstadt, in Thüringen ist dafür mitverantwortlich, was in unserem Land politisch und gesellschaftlich geschieht, oder aber auch nicht.

Wir haben auch in diesem Jahr die Wahl, wo unsere Reise in Thüringen, Deutschland und Europa hingehen soll!

Eins habe ich in den letzten Wochen wieder neu gelernt, dass die Wiederkehr des (Lebens-) Schicksals vielen von uns zu schaffen macht, wir haben eigentlich nichts in der Hand, noch nicht einmal den nächsten Herzschlag oder Atemzug. Die größte Selbstanmaßung der Moderne/des Menschen liegt aus meiner Sicht in der Abschaffung des Schicksals, des Lebensrisikos, wir kriegen eben doch nicht alles hin, so wie wir uns das alle wünschen. Wenn die aktuellen Krisen eines Tages eingedämmt oder vorbei sein sollten, wird uns wieder ein neues Schicksal herausfordern. Alles ist ein Geschenk, die Gesundheit, die Familie, der (Ehe-) Partner, die Freunde, die Arbeitsstelle, der Wohlstand, die Meinungs-, Glaubens-, Gewissens- und Versammlungsfreiheit – und noch vieles mehr.

Ich bin dankbar, dass ich in so einem guten Land leben und arbeiten darf, denn für mich ist das Glas eben auch in 2024, trotz der großen Probleme und Herausforderungen nach wie vor „halb voll“.

Persönliche Eindrücke von Jürgen Kissmann im Januar 2024.    


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