35 Jahre Mauerfall. Was hat sich erfüllt, was ist offen?
Wir sprechen mit Silvio Bröckel, 57 Jahre, gelernter Brauer-Mälzer, seit 1984 bei der Sternquell-Brauerei Plauen und dort Betriebsratsvorsitzender und zugleich Vorsitzender der NGG Dresden-Chemnitz. Er war damals auf der Straße dabei.
Silvio, du warst 1989 beim Aufbruch in Plauen dabei
Ich erinnere mich noch genau an den 7. Oktober und bekomme immer noch Gänsehaut. Es ging los auf dem Marktplatz in Plauen. Tausende strömten in die Stadt. Davor gab es einfache Handzettel in den Briefkästen und viel Mundpropaganda.
Es hat überall rumort. Hubschrauber mit Maschinengewehr im Anschlag kreisten über unseren Köpfen und die Bereitschaftspolizei knüppelte immer wieder die Straße vor dem Rathaus frei. Leute wurden festgesetzt. Wir wussten nicht, ob geschossen wird.
Als dann aber die Demonstration sich in Gang setzte und gewaltlos beendet wurde, wussten wir, dass die Revolution friedlich wird.
Worum ging es euch?
Die Leute waren unzufrieden. Viele, auch ich selbst hatten einen Ausreiseantrag [aus der DDR] gestellt. Wir waren mit dem ganzen Staat unzufrieden. Man verdiente Geld, konnte sich aber nichts Richtiges kaufen. Und wir wollten auch mal raus aus dem Land, wollten mal was anderes sehen, mal reisen. Die Rufe und Transparente waren: „Stasi raus!“, nach Reisefreiheit und nach Meinungsfreiheit!
Bei uns im Betrieb hat man darüber gesprochen. Jeder wusste, wer in der Stadt dabei war, auch der Parteisekretär. Aber als die Wende kam, musste der gehen.
Was waren deine Erwartung damals?
Die Freiheit hingehen zu können, wo man will. Zu Reisen, vernünftiges Geld zu haben und dafür ordentliche Ware zu erhalten. Man hat ja gesehen, was es im Westen gab. Vieles war bei uns katastrophal. Ich hatte eine Wohnung, die hatte noch nicht mal ein Bad.
Und wie ist deine Bilanz rückblickend?
Wir haben viel verändert, aber dann auch schnell gemerkt, was auf uns zu kommt. Wir hatten ja in der Schule gelernt, wie Kapitalismus funktioniert. Die ganz große Enttäuschung ist die Deindustrialierung, dass die Betriebe verhökert wurden über die Treuhand. Das war eine Katastrophe. Wir hatten zu DDR-Zeiten auch gute Sachen, wie das Schulsystem oder Gesundheitssystem. Da hat man nichts übernommen. Einfach das Land einverleibt, alles, was es gab, wegliquidiert. Jetzt werden die „DDR“-Sachen wieder entdeckt.
Auch heute gibt es viel Unmut?
Die Ampel hat bei den Wahlen eine Klatsche bekommen. Die machen aber nichts neu, sondern weiter so wie bisher. Und der Merz von der CDU redet nur darüber, wie dem Bürger in die Tasche gegriffen werden kann. Ja, der Ukraine muss geholfen werden, aber für die eigene Bevölkerung muss auch mehr getan werden. Wenn Menschen bei uns in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen, ist in diesem System irgendwas verkehrt.
Viel Protest geht in Richtung AfD
Bei uns in der Firma gibt es vereinzelte Leute. Ich habe dazu eine klare Meinung: Was schon mal hatten in der Nazizeit, brauchen wir nicht noch einmal. Die Menschen haben klare Meinung zur Politik, aber nicht alle springen bei der AfD auf.
Ich habe ich bei uns in der Gemeinde kandidiert und bin als Vizebürgermeister gewählt worden. Ich mache den Mund auf und das wollen die Leute. Die Regierung soll ordentlich Politik machen, dann gibt es keine AfD mehr.
Wie siehst du die Bilanz der Gewerkschaft?
Betriebe brauchen Gewerkschaften, brauchen Betriebsräte. Was manche Arbeitgeber bei uns in der Region mit ihren Mitarbeitern machen, wo es keine Betriebsräte gibt, ist eine Katastrophe.
Bei uns war die NGG immer ein guter Ansprechpartner. Der Betriebsrat ist sofort nach der Wende gegründet worden. Beim Lohn ist es anfangs wenig passiert, aber in den letzten Jahren haben wir sehr gute Ergebnisse erzielt. Die Arbeitgeber wissen, dass wir eine starke Truppe sind, die auch vor die Tür geht. Die Leute stehen hinter uns, die gesamte Belegschaft!
Danke Silvio!